Über den bevorstehenden Austritt Großbritanniens aus der EU und die damit entstehenden Konsequenzen für die Umweltpolitik, möchte ich mit Frau Bulling-Schröter sprechen. Sie ist Abgeordnete des Bundestages für die Linke und setzt sich vor allem für Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit ein. Vielen Dank Frau Bulling-Schröter, dass Sie Zeit gefunden haben, unsere Fragen zu beantworten.
Wie haben Sie den „Brexit“ in den letzten Tagen wahrgenommen? Was denken Sie zu dem Volksentscheid?
Frau Bulling-Schröter: Wir Linke treten seit langem für mehr direkte Demokratie ein. Als Demokratin muss ich dann mit den Ergebnissen leben, auch wenn sie mir nicht gefallen. Aber ein Volksentscheid beginnt nicht erst am Tag seiner Ankündigung. Die Europäische Union als historisches Friedensprojekt krankt seit langem an seiner extrem neoliberalen Ausrichtung auf Wirtschaftsexpansion, Lohndumping, Sozialabbau und Mietenexplosion in den Städten. Der Druck auf die Menschen wächst, die Gewinner des Binnenmarktes werden immer reicher, von Brüssel haben die Verlierer wenig zu erwarten. Die rechten Nationalisten haben mit dem Brexit das Ventil der Unzufriedenheit geöffnet. Die Flüchtlingsfrage wirkt dabei als Katalysator bestehender Verwerfungen. Die Mehrheiten in den Parlamenten ignorieren diese Stimmung. Die Folgen werden jetzt immer sichtbarer: statt die sozialen Probleme zu beheben droht die Europäische Gemeinschaft auseinanderzubrechen.
Es werden viele Folgen des Brexits vorhergesagt. Wer ist Ihrer Meinung nach am Meisten von dem Austritt betroffen?
Frau Bulling-Schröter: Die Brexit-Auswirkungen werden nicht sofort, sondern erst über einen langen Zeitraum spürbar sein. Kurzfristig verbessert oder verschlechtert sich nichts am Alltag all derer, die auf die Anti-Europa-Hetze der britischen Nationalisten angesprungen sind. Aber so viel ist klar: Der Brexit schafft auf keinen Fall mehr Jobs für junge Britinnen und Briten, bessere Löhne oder sinkende Mieten. Armut und Exklusion breiter Teile der Menschen wird nicht durch einen Rückfall in den Nationalstaat aufhören, nicht unter den Verhältnissen in Wirtschaft und Politik, die heute herrschen. Ob in Brüssel oder in London, solange Profit vor Allgemeinwohl geht bleibt alles beim Alten. Ablehnung von Fremden, der Rassismus gegen Migrantinnen und Migranten, wird auf der Insel weiter angeheizt. EinwandererInnen, sie sind die ersten Verlierer des Brexit.
Auch die Umwelt soll aufgrund des Austritts der Briten leiden. Werden die Briten wieder zum „Dirty Man of Europe“ den Sie in den Siebzigern waren, weil Sie den Umweltschutz nicht ernst nehmen?
Frau Bulling-Schröter: Umweltschutz steht weltweit auf der Abschussliste internationaler Konzerne. Für Konzernlobbys wird es natürlich deutlich einfacher nur einen Ausschuss im englischen Unterhaus zu beeinflussen statt eine Handvoll europäischer Fraktionen im EU-Parlament oder eine ganze Ministerriege aus allen Ecken Europas. Könnte es sein, dass die Brexit-Befürworter, hinter denen auch Teile der Industrie stehen, eine Aufweichung von Umweltschutz-Gesetzen durch den EU-Austritt anstreben? Gut möglich. Es ist bekannt, dass erst EU-Regularien im Gewässerschutz, bei der Luftqualität, beim Wasser, der Einrichtung von Naturschutzgebieten Druck von Außen auf Großbritanniens Gesetzgeber aufgebaut haben. Viele Brexit-Befürworter sind Klimawandel-Leugner, das muss man wissen. Hoffen wir, dass sich die vernünftigen Kräfte besinnen und es nicht zu einem Abbau von Umweltstandards kommt.
Glauben Sie denn, dass Großbritannien in der Umweltpolitik jetzt konsequent einen eigenen Weg gehen wird oder wird es so ähnlich bleiben, wie es bis jetzt ist?
Frau Bulling-Schröter: Bisher ist kein Staat aus der EU ausgetreten. Noch ist die Frage offen, welchen Status, welches politisches Verhältnis Großbritannien zur EU eingehen wird. Norwegen ist auch kein EU-Mitglied, aber Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums und hat sich in der Klimapolitik dieselben Ziele wie die EU gegeben. Noch gelten auch in Großbritannien die EU-Bestimmungen. Im Prozess der Re-Nationalisierung wird es seitens interessierter Kreise sicher viele Möglichkeiten geben, einen ökologischen Rollback zu organisieren. Neben den EU-Regeln gibt es nationale Umweltgesetzgebung allerdings nicht erst seit dem Brexit. Und da muss man sagen, dass die Briten etwa in der Klimapolitik eher Zugpferd als Schlusslicht in Europa sind, etwa was den gesetzlichen Mindestpreis von CO2-Rechten im EU-Emissionshandel angeht. Im Gegensatz zu good old Germany haben die Briten sogar ein nationales Klimaschutzgesetz, und das wird natürlich weiter bestehen.
Besteht auch die Möglichkeit, dass die Briten jetzt sogar eine bessere Klimapolitik entwickeln?
Frau Bulling-Schröter: Das ist heute, wenige Tage nach dem Referendum, natürlich noch schwer voraus zu sagen, zumal Umwelt und Klima nicht oben auf der politischen Agenda stehen. Sicherlich kann der britische Alleingang auch Vorteile für die Insel mit sich bringen. So muss sich London in Zukunft nicht mehr in langen Verhandlungsnächten mit ökologisch konservativen Ländern wie Polen oder Ungarn auseinandersetzen. Der Wegfall eines klimapolitisch aktiven Partners, der auf EU-Ebene oft eine Vermittlerrolle für die Stärkung des Klimaschutzes eingenommen hat, ist natürlich schmerzlich. Auch ein spannender Effekt: Sinkt die Wirtschaftsleistung in EU und Großbritannien geht auch der Treibhausgas-Effekt zurück. Die Brexit-Krise würde dem Klima eine Atempause verschaffen.
Sind Sie der Meinung, dass auch positive Aspekte aus dem Brexit entstehen könnten? Vor allem im Stichpunkt Euratom?
Frau Bulling-Schröter: In der Tat gibt es derzeit ernst zu nehmende Gerüchte, dass das geplante Atomkraftwerk Hinkley Point dem Brexit zum Opfer fällt. Der französische Staatskonzern EDF könnte den EU-Austritt zum Anlass nehmen sich beim immer teurer gewordenen Milliarden-Projekt aus der Affäre zu ziehen. Ich bin der Überzeugung, dass Dekarbonisierung und Klimaschutzziele nicht mit Atomkraft geschafft werden sollten, sondern mit Wind und Solar. Jeder Atommeiler weniger ist da zu begrüßen. Bei Hinkley Point stehen aber schon chinesische Firmen in den Startlöchern, man sollte sich da nicht zu früh freuen. Am Ende des Tages zählt, dass die Europäische Energiewende weiter geht, ob mit oder ohne Großbritannien in der EU. Gesundheit, Umwelt oder Klima ist es nämlich egal, welche Grenzen auf der Erde verlaufen.
Vielen Dank, Frau Bulling-Schröter, für dieses Interview!